In der amerikanischen Automobilwelt der 1950er Jahre war eines völlig normal: Zu jedem neuen Modelljahr erschienen umfangreiche Facelifts. Diese umfassten nicht einfach nur neu gestaltete Stoßstangen, sondern oft auch neue Kotflügel, Hauben und Türen. Ein Beispiel hierfür war die Chrysler 300 Letter Series. Diesen Zusatznamen erhielt die Modellreihe erst ab der ersten Überarbeitung. 1955 erschien das Fahrzeug noch als Chrysler 300, ab 1956 ergänzte in alphabetischer Reihenfolge ein Buchstabe die Bezeichnung, beginnend mit B in 1956. Dieser erhielt neben höheren Heckflossen auch eine Hubraumerhöhung von 5,7 auf 5,8 Liter. Zwei Leistungsversionen mit 340 oder 355 SAE-PS waren ebenso erhältlich, wie eine Dreigang-Automatik oder ein manuelles Dreigang-Getriebe anstelle der serienmäßigen Automatik mit zwei Fahrstufen.
Obwohl es den 300er grundsätzlich nur als Coupé gab, wollten einige Kunden gern ein etwas individuelleres Design haben. Unter ihnen befand sich Giovanni „Gianni“ Agnelli, der Enkel des Fiat-Gründers Giovanni Agnelli. Durch seine Herkunft genoss er ein Leben im Luxus und verfügte zugleich über einen untrüblichen Geschmack für gute Formen. Für die Sonderkarosserie auf das Basis eines 300B-Fahrgestells wandte er sich gezielt an die Carrozzeria Boano, deren Begründer Mario Boano zuvor bei Ghia diverse besondere Konzeptfahrzeuge in verantwortlicher Position gestaltet hatte. Dabei erschuf er unter anderem Designdetails wie den den trapezförmigen, leicht vorstehenden Kühlergrill in Verbindung mit runden Scheinwerfern. Einige Ghia-Studien für Chrysler zeigten diese Formen und brachten Gianni Agnelli offenbar auf den Geschmack.
Abgesehen von dieser speziellen Frontpartie fragte Agnelli jedoch bewusst nach typisch britischem Coupé-Stil mit nicht zu modernem Design. Hierfür erhielt das neu erschaffene Fahrzeug ein lederbezogenes Dach mit integriertem Schiebedach und einen um sieben Inch reduzierten Radstand. In die betonten hinteren Kotflügel integrierte Boano die originalen Rückleuchten des 300B. Technisch blieb es beim 355 SAE-PS starken Motor und der Dreigang-Automatik. Zur Ausstattung gehörten elektrische Fensterheber, eine elektrisch ausfahrende Radioantenne, Zusatzscheinwerfer von Marchal und Speichenfelgen von Kelsey-Hayes.
Was heute selbstverständlich ist, konnte damals noch niemand ahnen: Chrysler und Fiat gehörten damals noch nicht zu einem Autokonzern. Aus diesem Grund musste Gianni Agnelli Ende 1956 die Auslieferung des besonderen Coupés zu seinem eigenen Bedauern ablehnen. Stattdessen gab er das Unikat direkt an seinen Bruder Umberto weiter, der zu diesem Zeitpunkt die Geschicke von Fiat Frankreich leitete. Die Fahrzeugübergabe fand angeblich an einer Mautstation auf der italienischen Autobahn statt. 1957 erfolgte die Erstzulassung in Frankreich. Als Umberto 1960 nach Italien zurückkehrte, verkaufte er das Auto zuvor an einen Franzosen.
Anschließend blieb der Chrysler mehr als 30 Jahre in Frankreich und durchlief dabei zwei weitere Besitzerhände. 1989 wechselte das Einzelstück über den Atlantik nach Kalifornien, wo der Klassikerhändler Irving Willems es an den Sammler Michael Pomerance in Massachusetts verkaufte. Er behielt das Auto bis 2006 und sorgte in dieser Zeit für eine optische Auffrischung. Von 2006 bis 2018 stand der Chrysler in der Ramshead Collection in Sacramento und seitdem in einer Privatsammlung. Kürzlich erfolgte eine umfangreiche Restaurierung inklusive Neulackierung im originalen Farbton und neuen Bezügen für Dach, Sitze und Interieur. Seit der Fertigstellung erzielte der 300B den zweiten Platz in der Postwar Touring Klasse des Pebble Beach Concours d’Elegance 2019, den Best in Show Preis der Cavallino Classic Sports Sunday 2021, den Best in Show Preis beim Ocean Reef Vintage Weekend und erreichte Best in Class beim Villa d’Este Concorso d’Eleganza im Jahr 2022. Das Chrysler 300B Coupé Speciale ist eines von nur zwei amerikanischen Fahrzeugen, die jemals eine Sonderkarosserie von Boano erhalten haben. Im Rahmen der Monterey Car Week im August versteigert RM Sotheby’s das Unikat.
Bilder: RM Sotheby’s, Darin Schnabel