Erinnern Sie sich an die „Rote Sau“? Nein, ich meine keine rote Schweinerasse. Ich spreche von dem Rennfahrzeug, mit dem AMG Anfang der 1970er Jahre im Bewusstsein vieler Leute ankam. Als Basis hatte der damals noch unabhängige Tuningbetrieb ausgerechnet einen Mercedes-Benz 300 SEL, also den Vorläufer der heutigen S-Klasse, ausgewählt. Allerdings hatte der schwäbische Autohersteller selbst mit dem straßenzugelassenen 300 SEL 6.3 bereits den Grundstein für dieses Projekt gelegt. Sowohl ab Werk als auch mit AMG-Tuning konnten die Kunden damals manchen veritablen Sportwagen auf der Autobahn ausbeschleunigen. Dass dieses Auto mit dazu beigetragen hat, dass Mercedes-Benz und AMG einige Jahrzehnte später zusammenwuchsen, war wohl kaum absehbar. Gut erhaltene 300 SEL 6.3 sind inzwischen gesuchte Raritäten, die deutlich höhere Preise im Vergleich zum normalen 300 SEL erzielen. Ein guter Grund für die amerikanische Firma Icon Derelict, lieber die günstigere Variante als Ausgangspunkt für das neueste Projekt zu nutzen, das nun im Rahmen der SEMA in Las Vegas debütierte.
Der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 brachte den großen V8-Motor aus der Repräsentationslimousine 600 (W 100) in die kleinere Baureihe. Es folgten im Laufe der Produktionszeit die beiden Varianten 300 SEL 3.5 und 300 SEL 4.5 mit entsprechend kleineren V8-Triebwerken. Im normalen 300 SEL steckte derweil lediglich ein Sechszylindermotor. Warum der schwäbische Hersteller damals nicht einfach die vorgestellte Zahl auf 350, 450 und 630 veränderte? Weil besonders die letztgenannte Nummer das bereits genannte Präsidenten- und Königs-Auto der Baureihe W 100 namentlich übertrumpft hätte. Also stellte man den Hubraum als Zusatzzahl nach hinten. Ähnlich macht es nun auch Icon. Die Firma aus Los Angeles in Kalifornien ist eigentlich für besonders potente Geländewagen bekannt, die im hauseigenen 4×4-Programm laufen. Daneben gibt es seit einigen Jahren das Derelict-Programm, in dem sich die hauseigenen Techniker um diverse Klassiker aus aller Welt kümmern und diesen neue Technik einpflanzen.
Die Besonderheit der Fahrzeuge von Icon Derelict ist dabei häufig, dass gezielt Basisfahrzeuge genommen werden, deren optischer Zustand nicht mehr der beste ist. Im Falle dieses Wagens handelt es sich um einen 1971er 300 SEL, der viele Jahre auf einem Grundstück in den USA unter freiem Himmel stand. Dies kann man gut am verbrannten Lack auf Haube, Dach und Kofferraumklappe erkennen. Auch die Edelstahl- und Chromoberflächen an Zierleisten, Stoßstangen und Logos zeigen eine deutliche Patina. Neu sind nur die einteiligen Billet-Aluminiumfelgen von EVOD. Diese entsprechen zwar dem klassischen Mercedes-Design, sind jedoch größer und breiter.
Völlig neu ist hingegen alles, was sich unter der Motorhaube verbirgt. Wo, wie oben beschrieben, ab 1971 in diesem Auto eigentlich ein Reihensechszylinder werkelte, sitzt nun ein LS9-V8-Motor von General Motors mit 6,2 Litern Hubraum und Kompressoraufladung. Normalerweise findet man dieses Triebwerk beispielsweise in der Corvette C6 ZR1. Dort leistet er 476 kW/647 PS und stemmt 819 Newtonmeter Drehmoment auf die Kurbelwelle. Ob diese Leistungsdaten auch für den 300 SEL 6.2 gelten, ließ Icon offen. Ein handgefertigtes Viergang-Automatikgetriebe überträgt die Kraft auf die Hinterachse. Um den neuen Motor und das an die Mehrleistung angepasste, voll verstellbare Gewinde-Fahrwerk mit Einzelradaufhängung hinten bestmöglich unterbringen zu können, verbaute Icon zudem einen Vollrahmen von Art Morrison anstelle des originalen Chassis. Auch das Hinterachs-Differenzial stammt von Art Morrison. Vom Motor zum Heck verläuft unter dem Auto eine neue Edelstahl-Abgasanlage.
Innen überarbeitete Icon die originalen Komponenten und bezog zudem die Vordersitze und die Rückbank mit neuem schwarzen Leder. Die Holz-Zierleisten wurden liebevoll restauriert, während unter dem Armaturenbrett eine neue Mittelkonsole einzog. Sie beherbergt das originale Radio, das im Hintergrund eine Audio-Einheit mit Bluetooth-Steuerung, vier Focal 2-Wege-Lautsprechern, zwei Subwoofern und einem hochwertigen Verstärker verbirgt. In die originalen Rundinstrumente integrierte man neue, maßgeschneiderte Anzeigen von Redline Gauges. Das erste Exemplar des Icon Derelict Mercedes-Benz 300 SEL 6.2 kostet den neuen Besitzer rund 450.000 US-Dollar. Ob weitere Fahrzeuge folgen werden hängt vom Interesse potenzieller Kunden ab.