Eigentlich könnte man meinen, dass in Richtung Jahresende langsam Ruhe in der europäischen Automobilszene einkehrt. Zumal viele Hersteller aktuell Neuausrichtungen vornehmen (müssen), ihr Modellprogramm neu gliedern und/oder diverse Sparmaßnahmen durchführen (müssen). Doch weit gefehlt. Bugatti beschloss, das Jahr 2024 noch einmal mit einem Knall zu untermalen. Dieser Knall fand zwar nur symbolisch statt, markierte jedoch den Bruch der bis dahin gültigen Schallmauer in Sachen Höchstgeschwindigkeit von offenen Fahrzeugen. Praktischerweise treten die Molsheimer dabei fast ausschließlich gegen sich selbst und den vor elf Jahren mit dem Veyron Grand Sport Vitesse aufgestellten Weltrekord an. Allerdings gibt es noch einen kleinen Mitbewerber aus den USA, der sich in naher Zukunft möglicherweise in die Rekordjagd einklinken wird und auch Koenigsegg aus Schweden könnte theoretisch mit geöffnetem Carbondach am aktuellen Jesko im Thema mitmischen. Am 9. November war es jedoch erst einmal der neue W16 Mistral, dessen Serienfertigung aktuell in Molsheim anläuft, der im imaginären Rampenlicht der Hochgeschwindigkeitsteststrecke im norddeutschen Papenburg glänzen durfte.
Dies bedarf eventuell einer kleinen Erklärung, denn bislang fanden die Rekordversuche von Bugatti ausschließlich auf dem Volkswagen-Testgelände in Ehra-Lessien statt. Durch die Neugründung der Firma Bugatti Rimac ist der Sportwagenbauer jedoch rechtlich betrachtet kein direkter Bestandteil des Volkswagen Konzerns mehr und hat somit auch keinen direkten Zugriff auf das Testgelände. Papenburg mit seinem High-Speed-Oval kann hier jedoch durchaus in Konkurrenz treten. Es galt am 9. November also, den elf Jahre alten Rekord von 408,84 km/h zu überbieten. Wer das Team rund um den jungen CEO Mate Rimac kennt, weiß, dass man sich ungern mit einer minimalen Verbesserung zufrieden gegeben hätte. Entsprechend überließ man nichts dem Zufall und bereitete das vorgesehene Kundenfahrzeug in den letzten Monaten akribisch vor. Auch Reifenpartner Michelin war mit einem speziell geschulten Team vor Ort, um alle Fahrten zu beobachten und gegebenenfalls durch veränderten Reifendruck oder ähnliches einwirken zu können.
Ja, richtig gelesen. Dieser W16 Mistral ist tatsächlich bereits ein Kundenfahrzeug und geht in Kürze in die Sammlung der Familie Singh. Diese besitzt bereits unter anderem alle vorherigen Rekord-Editionen des Veyron Super Sport, Veyron Grand Sport Vitesse und Chiron Super Sport. In der Annahme einer positiv verlaufenden Rekordfahrt waren diese drei Fahrzeuge ebenfalls in Papenburg vor Ort, um ein einmaliges Gruppenbild mit dem in gleicher Farbgebung (Sichtcarbon mit orangefarbenen Akzenten) zu bilden. Cheftestfahrer Andy Wallace ließ es sich nicht nehmen, sowohl die Aufwärmfahrten als auch den eigentlichen Rekordversuch zu fahren. Unter den wachsamen Augen des SGS-TÜV Saar GmbH und begleitet von einer Horde Messgeräte im Cockpit durchfuhr er mit dem W16 Mistral mit exakt 200 km/h die Steilkurve, um anschließend die volle Leistung von 1.600 PS abzurufen. Am Ende der Geraden, kurz vor dem Anbremspunkt für die zweite Steilkurve, vermerkten die Messungen eine Geschwindigkeit von 453,91 km/h. Ohne Zweifel ein neuer Rekord und das mit deutlichem Abstand zu dem aus dem Jahr 2013. Anschließend durfte der neue Fahrzeugbesitzer eine Runde als Beifahrer mit Andy Wallace mitfahren, auf der annähernd das selbe Tempo erreicht werden konnte – vermutlich ein inoffizieller Weltrekord für die schnellste Passagierfahrt aller Zeiten.
Gerüchteweise arbeitet Michelin im Auftrag von Bugatti bereits an neuen Reifen für den Tourbillon, um beim nächsten Rekordversuch endlich die schon lange ersehnte „5“ am Beginn der dreistelligen Zahl vor dem Komma hinzubekommen.
Bilder: Bugatti