Röhr Tatzelwurm

Einzelstücke aus der Automobilgeschichte haben mich schon immer fasziniert, besonders, wenn eine ungewöhnliche Geschichte hinter ihrer Entstehung steckt. In den seltensten Fällen ergibt sich bei derartigen Unikaten die Chance, sie jemals live irgendwo zu erblicken. Doch beim Röhr Tatzelwurm passte in diesem Jahr alles zusammen. Das Auto wird Anfang Februar vom französischen Auktionshaus Artcurial im Rahmen der Retromobile in Paris versteigert. Zuvor hat der aktuelle deutsche Besitzer es in der Classic Remise Düsseldorf eingelagert, wo auch die offiziellen Bilder für den Auktionskatalog entstanden sind. Und eben dort hatte ich auch die Gelegenheit, dieses ungewöhnliche Fahrzeug zumindest kurz live zu betrachten. Interessanterweise gehörte ich dabei zur absoluten Minderheit, denn die meisten anderen Besucher um mich herum schauten sich lieber moderne Sportwagen oder andere Klassiker an, als dieses doch etwas patinierte Einzelstück.

Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography
Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography
Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography

Gut, zugegeben, wüsste ich nicht, was hinter diesem Fahrzeug steckt, hätte ich mir vielleicht auch eher die glänzenden Autos rundherum in der Classic Remise angesehen. Doch manchmal lohnt der Blick auf die Mauerblümchen und Randerscheinungen. Beginnen wir bei dieser Betrachtung erst einmal mit der Basis. Diese stammt von der inzwischen fast in Vergessenheit geratenen Automarke Röhr. Zwischen 1926 und Anfang 1935 entstanden in den ehemaligen Räumlichkeiten der Falcon Automobilwerke in Ober-Ramstadt bei Darmstadt rund 3.500 Fahrzeuge. Eine erste Insolvenz 1930/31 führte dazu, dass der Firmengründer Hans Gustav Röhr aus dem Unternehmen ausschied, eine zweite im Jahr 1934/35 schließlich zum Ende der Marke. Die Produktionsrechte am Röhr Junior übernahm Stoewer für den Greif Junior. Röhr hatte technische Details dieser Modellreihe wie den luftgekühlten Vierzylindermotor mit 1,5 Litern Hubraum oder den Rohrrahmen mit vier Einzelradaufhängungen im Lizenzbau vom tschechischen Tatra 75 übernommen.

Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography
Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography
Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography

Genau dieses Modell, der Röhr Junior, diente dem Ingenieur Karl-Wilhelm Ostwald als Grundlage für eine Aerodynamikstudie, die wir heute als Tatzelwurm kennen. Ostwald arbeitete nach seinem Maschinenbaustudium ab 1934 als Auszubildender in der Mechanikabteilung von Röhr. Als Bezahlung erhielt er am Ende seines Vertrages ein fahrfähiges Fahrgestell eines Röhr Junior von 1933, das ungenutzt in einer Ecke stand. Mit beschränkten Mitteln und geringer Materialauswahl machte er sich daran, eine besonders aerodynamische Karosserie dafür zu entwerfen und zu fertigen. Während der Wagenboden, die Türen, die hinteren Seitenteile und das Dach aus Holz enstanden, baute er die Front aus Blechplatten. Klappt man eine der beiden Seiten der Motorhaube auf, erblickt man jedoch ganz klar die freistehenden Kotflügel des Basisfahrzeugs.

Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography
Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography

Die außergewöhnliche Gestaltung des Fahrzeugs brachte ihm rasch den Spitznamen Tatzelwurm ein. Darunter versteht man gemeinhin einen Wurm mit katzenartigem Kopf. Offenbar hielten viele Betrachter die Frontpartie des Wagens mit den runden Scheinwerfern und dem kleinen Lufteinlass oberhalb des Kennzeichens für katzenhaft. Selbst die damalige Fachpresse, wie das Magazin AAZ, nahm diesen Namen für Berichte über das Fahrzeug auf. Karl-Wilhelm Ostwald erhielt von einigen deutschen Behörden in der NS-Zeit den Auftrag, mit seinem Testwagen die neu erbauten Autobahnen abzufahren und dabei deren Beschaffenheit zu dokumentieren. Diese Aufgabe führte dazu, dass er auch nach dem Krieg als Experte für Autobahnbau galt. Den Tatzelwurm behielt er rund 40 Jahre lang bis zu seinem Tod im Jahr 1979 und nutzte ihn lange als Alltagswagen. Selbst heute hängen noch die originalen Kennzeichen aus der Nachkriegszeit am Fahrzeug, die aus der Amerikanischen Zone Hessen (AH) stammen. Der aktuelle Besitzer übernahm den Wagen von der Familie Ostwald zusammen mit allen Zulassungsdokumenten sowie den originalen Entwicklungsplänen. Nun kommt der Tatzelwurm bei Artcurial unter den Hammer und soll laut Experten einen Zuschlagspreis zwischen 50.000 und 80.000 € erreichen.

Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography
Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography
Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography
Röhr Tatzelwurm – Bild: Artcurial, Marcphotography