Volkswagen W12 Nardò

In der Geschichte des Automobils gibt es viele Momente, bei denen sich Betrachter im Nachhinein fragen: „Was wäre gewesen, wenn…?“ Interessanterweise finden sich einige davon in der Historie von Volkswagen. Beginnend mit möglichen und letztlich doch verworfenen Nachfolgern des Käfer bis hin in die Moderne mit dem direkt ins Fahrzeugdepot verschobenen Phaeton der zweiten Modellgeneration. Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre arbeiteten die VW-Ingenieure erstmals an einem Supersportwagenprojekt. Den Wunsch dazu hatte der damalige Vorstandsvorsitzende Ferdinand Piëch geäußert. Er wollte der Welt beweisen, dass Volkswagen in der Lage ist, sowohl einen veritablen Sportwagen, als auch einen tollen Motor für Luxus- und Sportfahrzeuge zu bauen. Während die technischen Spezifikationen nach seinen Ideen in der hauseigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Wolfsburg entstanden, beauftragte man Giorgio Giugiaro und seine Firma Italdesign mit dem Design.

Volkswagen W12 Syncro – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Syncro – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Syncro – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Syncro – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Syncro – Quelle: Volkswagen

Niemand außerhalb des VW-Konzerns erwartete ein solches Auto von dieser Marke. Entsprechendes Erstaunen herrschte 1997 auf der Tokyo Motor Show, als das Tuch von einem knallgelb lackierten Mittelmotorsportwagen mit dem Namen „W12 Syncro“ gezogen wurde. Syncro bezeichnete bis Ende der 1990er Jahre den Allradantrieb bei VW und wurde anschließend durch die Bezeichnung 4Motion abgelöst. Direkt hinter dem Passagierabteil lauerte ein 5,6 Liter großer W12-Motor mit 309 kW/420 PS. Die Zylinderanordnung mit zwei ineinander verschränkten VR6-Triebwerken galt als wegweisend, da sie eine deutlich kompaktere Bauform im Vergleich zu einem V- oder Reihenmotor erlaubte. „Laut unserer Vorgabe durfte der Motor nicht länger sein als ein bereits existierender Achtzylinder, um keine tief greifenden konstruktiven Änderungen am Fahrzeug (Anmerkung: Die Rede ist vom damals noch im Entwicklungsstadium steckenden Projekt D1, aus dem der Phaeton wurde) vornehmen zu müssen,“ erinnert sich Rudolf-Helmut Strozyk, damaliger Leiter der Aggregatekonstruktion bei Volkswagen. Für die Kraftübertragung auf den Syncro-Allradantrieb sorgte ein sequenzielles Sechsgang-Getriebe. Rund ein halbes Jahr später stand auf dem Genfer Automobilsalon ein rot lackierter W12 Roadster auf dem VW-Stand. Hier verzichteten die Ingenieure auf den komplizierten Allradantrieb und schickten die Leistung des W12 ausschließlich zur Hinterachse. Ein besonderes Detail waren die braunen Ledersitze, die über die volle Breite ein eingesetztes VW-Logo in hellerem Braun zeigten.

Volkswagen W12 Roadster – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Roadster – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Roadster – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Motor – Quelle: Volkswagen

Obwohl es zahlreiche Interessenten für den deutschen Supersportwagen mit den Scherentüren gab, mochte man sich in Wolfsburg nicht zu einer Ankündigung für eine Serienfertigung durchringen. Trotzdem liefen hinter den Kulissen die Entwicklungen und Erprobungen weiter. Dies wurde Außenstehenden allerdings erst 2001 klar, als die Tokyo Motor Show erneut als Bühne für diesen Supersportwagen diente. Der optisch und technisch modifizierte W12 Nardò debütierte hier als Coupé in Rotorange metallic. Er trug einen auf sechs Liter vergrößerten W12-Motor, der nun 440 kW/600 PS leistete. Das maximale Drehmoment betrug 621 Newtonmeter. Zudem standen im Datenblatt eine Höchstgeschwindigkeit von 357 km/h und eine Beschleunigungszeit von 3,5 Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100. Beachtliche Werte, die jedoch von manchen Betrachtern angezweifelt wurden. Immerhin handelte es sich auch beim W12 Nardò weiterhin nur um eine Konzeptstudie. VW plante indes bereits die Beweisführung, um die Leistungsfähigkeit des W12-Triebwerks aufzuzeigen.

Volkswagen W12 Nardò – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Nardò – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Nardò – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Nardò – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Nardò – Quelle: Volkswagen

Ein erster Anlauf im Oktober 2001 fand nur wenige Stunden nach dem Rollout des fünften gebauten Volkswagen W12, einem mattschwarzen Coupé ohne Außenspiegel und Scheibenwischer, statt. Nummer vier ist ein hier im Artikel nicht gezeigtes, schwarzes Coupé, das im Besitz von Italdesign blieb. Bei einer 24-stündigen Schnellfahrt in Nardò traten erwartungsgemäß einige kleinere technische Probleme auf. Letztlich lag die Durchschnittsgeschwindigkeit mit 295,24 km/h knapp unter der erhofften 300-km/h-Grenze. Ferdinand Piëch entschied, dem Team eine zweite Chance zu geben – unter der Voraussetzung, dass die Technik diesmal bestmöglich funktionieren sollte. Am 23. Februar 2002 fand sich ein großes Team von Volkswagen Racing auf dem Nardò-Testgelände in der süditalienischen Provinz Lecce ein. Im Gepäck hatten sie erneut den W12 Nummer fünf. Nardò bietet neben diversen kurvigen Teststrecken und Skidpads auch eine Kreisbahn mit vierspuriger Steilkurve und 12,5 Kilometern Länge. Dort drehte der W12 Nardò volle 24 Stunden am Stück seine Runden und legte dabei 7.740,576 Kilometer zurück. Die Durchschnittsgeschwindigkeit inklusive aller Boxenstopps betrug 322,891 km/h. Dies ist einer von insgesamt 12 internationalen Weltrekorden, die der Wagen bei dieser Fahrt aufstellte. Zehn davon hatte VW bereits beim ersten Anlauf überboten und konnte sie nun noch einmal verbessern. Alle 12 sind bis heute, 20 Jahre später, ungeschlagen.

Volkswagen W12 Nardò – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Nardò – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Nardò – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Nardò – Quelle: Volkswagen
Volkswagen W12 Nardò – Quelle: Volkswagen

Zum sechsköpfigen Fahrerteam gehörten anfangs Dieter Depping, Emanuele Naspetti, Mauro Baldi, Marc Duez, Giorgio Sanna und Jean-François Hemroulle. Für den zweiten Anlauf ersetzte man Naspetti durch Raimund Baumschlager. Wie bei der ersten Fahrt im Oktober blieben die Fahrer auch diesmal nach Ablauf der 24 Stunden voll auf dem Gas und machten die Distanz von 5.000 Meilen (8.046,72 Kilometer) voll. Die Motorsportweltbehörde FIA hatte offizielle Beobachter entsandt, die die folgenden Rekorde attestierten:

  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 100 Kilometer: 322,464 km/h (1)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 100 Meilen: 325,593 km/h (1)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 500 Kilometer: 324,672 km/h (1)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 500 Meilen: 327,390 km/h (1)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 1.000 Kilometer: 325,280 km/h (1)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 1.000 Meilen: 325,863 km/h (2)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 5.000 Kilometer: 324,850 km/h (2)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 5.000 Meilen: 323,039 km/h (2)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 1 Stunde: 328,160 km/h (1)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 6 Stunden: 325,584 km/h (2)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 12 Stunden: 324,876 km/h (2)
  • schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über 24 Stunden: 322,891 km/h (2)

(1 = internationaler Klassenrekord, 2 = Weltrekord)

Trotz dieser beeindruckenden Rekorde erhielt der W12-Supersportwagen keinerlei Serienchancen. Die nach Wolfsburg geschickten Blancoschecks diverser Autosammler aus aller Welt wurden zurückgeschickt und die Autos rollten ins Museum. Kurz nach den Rekordfahrten debütierte jedoch die Serienversion von Projekt D1, die Oberklasselimousine Phaeton, auf dem Genfer Autosalon. Unter der Motorhaube steckte bei der Topversion der sechs Liter große W12 mit anfänglich 309 kW/420 PS und Allradantrieb. Irgendwie kommen mir diese Leistungsdaten bekannt vor…