Autorennen haben bis heute eine Aura von Aufregung und Spannung. Allerdings sind sie inzwischen meilenweit von der Frühzeit des Motorsports entfernt. Kurz nach der Erfindung des Automobils gab es erste Kunden aus der Adelsschicht, die das Potenzial ihrer neuen Fortbewegungsmittel erkannten. Bis zum Bau spezieller permanenter Rennstrecken dauerte es noch einige Jahre. Stattdessen etablierten sich Rennen von Großstadt zu Großstadt, häufig zwischen den Hauptstädten. Hinzu kam die 432 Kilometer lange Targa Florio auf Sizilien, die mehrere komplette Umrundungen der italienischen Insel beinhaltete. Neben Privatfahrern stiegen immer mehr Hersteller in den Motorsport ein und brachten größere Teams an den Start. 1922 ging beispielsweise die Daimler-Motoren-Gesellschaft mit sechs Rennfahrzeugen aus dem Werksbestand auf die Reise nach Süditalien. Diese fand damals noch nicht auf geschlossenen Renntransportern statt, sondern wurde auf Achse abgeleistet. Drei unterschiedliche Modellreihen waren darunter. Hinzu kamen privat vorbereitete Grand-Prix-Rennfahrzeuge, beispielsweise der 115-PS-Mercedes des italienischen Graf Giulio Masetti. Sein Auto basierte auf einer Konstruktion von 1914, die damals mit einem Dreifachsieg den Großen Preis von Frankreich dominierte. Vor dem Rennen in Sizilien erhielten drei dieser Autos Updates im Werk in Untertürkheim. Unter anderem tauschte man die Guss- durch Leichtmetallkolben aus.



Zum allerersten Mal setzte das Daimler-Team Fahrzeuge mit Kompressoraufladung ein. Diese sollten nach dem Willen von Chefkonstrukteur Paul Daimler beim Renneinsatz gegen die baugleichen Modelle ohne Aufladung erprobt werden. Mit dem Rootes-Drehkolbengebläse hatte er bereits bei Flugmotoren erste Erfahrungen gesammelt. 1919 verbaute er einen solchen Kompressor testweise an einem schiebergesteuerten Motor in einem Mercedes-Knight 10/30 PS. Nachdem die Ergebnisse am Knight-Motor nicht so ausfielen wie erwünscht, wandte sich das Team ventilgesteuerten Triebwerken zu. Bereits 1921 debütierten die beiden Serienautos 6/25 PS und 10/40 PS, die jedoch erst zwei Jahre später in Produktion gingen. Für die Targa Florio nutzte Daimler die Typen 6/20 PS und 28/95 PS. Für den Erstgenannten entstand der Rennmotor M 65134 mit 1,5 Litern Hubraum und 33 kW/45 PS, aus denen mit Kompressorzuschaltung 49 kW/67 PS wurden. Im 28/95 PS steckte normalerweise ein 7,3-Liter-Reihensechszylindermotor. Für das Rennen wurde ein Fahrzeug mit einem 4,5-Liter-Kompressortriebwerk ausgestattet. So standen 81 kW/110 PS ohne und 107 kW/145 PS mit Aufladung bereit.



Die unterschiedlichen Antriebskonzepte konnten gegeneinander antreten, da es auch 1922 bereits verschiedene Rennklassen gab. Am Ende setzte sich Graf Giulio Masetti im Gesamtklassement durch und holte damit auch den Klassensieg bei den reinen Rennwagen. Mit einer Zeit von 6 Stunden 50 Minuten und 50,4 Sekunden fuhr er zudem die schnellste Gesamtzeit, die bis dahin jemals bei der Targa Florio erzielt werden konnte. Auch die schnellste Einzelrundenzeit ging an den Italiener. Damit erhielt er die Coppa Termini, die Coppa Polizzi und die Goldmedaille des italienischen Königs. Werkspilot Christian Lautenschlager mit seinem Beifahrer Ernst Hemminger erreichte in einem baugleichen Auto den zweiten Platz in der Rennwagenklasse und Platz 10 insgesamt. Bei den Serienwagen über 4,5 Litern Hubraum holte Max Sailer mit einem 28/95 PS Kompressor den Klassensieg vor Christian Werner in einem baugleichen Auto ohne Kompressor. Paul Scheef erzielte Platz drei bei den Serienwagen bis 1,5 Liter Hubraum mit einem Mercedes 6/40/65 PS. Während die Werksautos allesamt im damals für Deutschland typischen Weiß erstrahlten, zeigte sich das am Ende siegreiche Fahrzeug von Graf Masetti in Italiens Rennfarbe Rot.


Diese äußerst erfolgreiche Rennpremiere der Kompressormotoren war für Daimler und die Mercedes-Fahrzeuge ein Vorbote auf folgende Zeiten. Kurz darauf erschienen die erfolgreichen Kompressor-Tourenwagen der S-Familie, die schließlich Anfang der 1930er im SSKL gipfelte. Hinzu kamen aufgeladene Motoren in den Silberpfeilen ab 1934. Ihre Leistungsfähigkeit stellten die Fahrzeuge im Jahr 1922 nicht nur im Rennen selbst, sondern auch bei der An- und Abreise unter Beweis. Hierfür rüstete Daimler die Autos mit temporären Kotflügeln aus und sorgte für Straßenzulassungen. Heute dürften TÜV-Prüfer bei der Abnahme eines Grand-Prix-Renners vermutlich entweder in Lachkrämpfe oder Schnappatmung verfallen. Auf dem Weg nach Sizilien besuchte die DMG-Mannschaft kurz die Werksvertretung in Rom. Nach dem Rennen ging es auf gleichem Weg zurück. Vor den Werkstoren in Untertürkheim fand ein großer Empfang durch die Mitarbeiter statt.


